- Die Europäer produzieren im Vergleich zu den Amerikanern deutlich weniger pro Arbeitsstunde, was zu einer wachsenden wirtschaftlichen Kluft führt.
- Europa steht vor großen Herausforderungen in den Bereichen Innovation, teure Energie und anfällige Lieferketten, die seine globale Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigen.
Ist Europa dem wirtschaftlichen Niedergang geweiht? Diese Frage drängt sich auf, da der Kontinent in Bezug auf die Produktivität zunehmend an Boden gegenüber den Vereinigten Staaten verliert. Ein wichtiger Bericht des ehemaligen italienischen Premierministers Mario Draghi zeichnet ein klares Bild von Europas wirtschaftlicher Entwicklung und gibt Anlass zur Sorge über seine Wettbewerbsposition auf der Weltbühne.
Europas schwindende Wettbewerbsfähigkeit
Die Kluft zwischen Europa und den Vereinigten Staaten wird immer größer. Die Europäer sind im Durchschnitt 25 % weniger wohlhabend als die Amerikaner. Während die längeren Arbeitszeiten in den USA einen gewissen Anteil an dieser Diskrepanz haben, ist die besorgniserregendere Tatsache, dass die Europäer einfach weniger pro Arbeitsstunde produzieren. Dieser Trend ist nicht neu; seit Mitte der 1990er Jahre ist die Produktivität in Europa allmählich zurückgegangen. Einst mit den Vereinigten Staaten vergleichbar, hinkt Europa heute deutlich hinterher. Dieses Problem betrifft viele der führenden europäischen Volkswirtschaften, darunter Deutschland, Frankreich und Italien.
Der Draghi-Bericht, der von der Europäischen Kommission in Auftrag gegeben wurde, hebt drei Hauptprobleme hervor, die die Wettbewerbsfähigkeit Europas behindern:
- Ein eklatanter Mangel an Innovation
- Hohe Energiekosten
- Anfällige Lieferketten und eine schwache Verteidigungsindustrie
Europas Innovationsschwierigkeiten sind offensichtlich, denn es fehlt an führenden Technologieunternehmen, die mit den amerikanischen Silicon-Valley-Giganten vergleichbar sind. Die Frage,
“Wo ist das europäische Google?”
bleibt unbeantwortet. Darüber hinaus übernehmen europäische Unternehmen neue Technologien nur langsam, was das Produktivitätswachstum dämpft, insbesondere in Sektoren, die intensiv mit Informationstechnologie arbeiten.
Was die Energie betrifft, so haben die Europäer im Vergleich zu ihren amerikanischen oder chinesischen Kollegen viel höhere Kosten für Strom und Erdgas zu tragen. Dieser erhebliche Nachteil wirkt sich auf die Produktionskosten der europäischen Unternehmen aus, was ihre Fähigkeit, im globalen Wettbewerb zu bestehen, weiter beeinträchtigt.
Interessanterweise wird im Draghi-Bericht die Alterung der europäischen Bevölkerung nicht als ein Faktor genannt, der zum Produktivitätsrückgang beiträgt. Die Alterung der Bevölkerung ist jedoch unbestreitbar und hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Größe, die Zusammensetzung und die Dynamik der Arbeitskräfte. Ältere Arbeitskräfte sind möglicherweise weniger geneigt, neue Technologien oder unternehmerische Risiken einzugehen.
Der Bericht fordert eine stärkere Koordinierung zwischen den EU-Ländern in den Bereichen Regulierung, Handelspolitik, Industriestrategie, Forschungsförderung, Bildung und Flächennutzung mit dem Ziel, ein einheitlicheres europäisches Gebilde nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten oder Chinas zu schaffen. Auch wenn dies in einigen Bereichen von Vorteil ist, ist die Notwendigkeit einer solchen Zentralisierung in allen Bereichen angesichts der sprachlichen und kulturellen Vielfalt in Europa fraglich.
Da der Bericht die Vereinigten Staaten implizit als Konkurrenten darstellt, übersieht er potenzielle transatlantische Kooperationen, von denen beide Regionen profitieren könnten. Europa sieht sich dringenderen Bedrohungen gegenüber, insbesondere aus Russland und China, wobei letzteres eine große Herausforderung in Bereichen wie Elektrofahrzeuge und grüne Technologien darstellt.
Anstatt den American Inflation Reduction Act als Bedrohung zu betrachten, könnte Europa sich von ihm inspirieren lassen und die wirtschaftlichen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten vertiefen. Dazu gehören die Nutzung amerikanischer Investitionen in Risikokapital und gemeinsame Forschungsprojekte, die angesichts des Aufstiegs Chinas ein stärkeres transatlantisches Bündnis fördern könnten.
Ein Aufruf zu pragmatischen Reformen
Die derzeitige europäische Politik, wie z. B. der deutsche Ausstieg aus der Kernenergie und die strengen Datenschutzbestimmungen, haben ungewollt etablierte amerikanische Tech-Giganten gegenüber neuen europäischen Start-ups begünstigt. Diese Entscheidungen, die eher ideologisch als pragmatisch motiviert sind, behindern möglicherweise den technologischen und wirtschaftlichen Fortschritt Europas.
Europa muss seine Beziehung zur Technologie neu überdenken. Anstatt die amerikanischen Digitalgiganten lediglich zu regulieren, muss es ein Umfeld schaffen, das seine eigenen Technologiechampions fördert. Dies erfordert eine stärkere Unterstützung von Forschung und Innovation und ein Nachdenken über kulturelle und regulatorische Barrieren, die das Unternehmertum auf dem gesamten Kontinent behindern.
Im Wesentlichen ist der Draghi-Bericht ein entscheidender Weckruf, der Europa auffordert, seine Selbstzufriedenheit zu überwinden und seine Innovationslücke, die hohen Energiekosten und die demografischen Herausforderungen anzugehen, um ein wichtiger Akteur auf der Weltbühne zu bleiben.